Chen Yu Taiji Gongfu

Artikel erschienen in Ausgabe 01/2004 der Cultura Martialis, Journal der Kampfkünste aus aller Welt. Mit freundlicher Genehmigung von Dietmar Stubenbaum wird das vollständige Interview hier erneut publiziert.

Ein Interview mit Chen Yu

Das Interview wurde geführt von Dietmar Stubenbaum
Assistiert von: John Prince
Foto: Marc Pion
Übersetzungen Englisch/Deutsch: Holger Uhlmann

In seinem Heimatland China als großer Praktiker des Chen Taijiquan bekannt, ist Chen Yu in unseren Breitengraden nur wenigen ein Begriff. Das könnte sich bald ändern, denn der Enkel von Chen Fake und Chen Zhaokui ist gewillt, seinen Familienstil auch in Europa zu verbreiten. Bei der Begegnung mit dem charismatischen Chen Yu wird deutlich, um was es ihm geht: Das konsequente und praxisorientierte Üben des "einen" Taijiquan seiner berühmten Vorfahren.

cultura martialis: Herr Chen, in welchem Alter haben Sie begonnen von Ihrem Vater Taijiquan zu erlernen und wie lange übten Sie mit ihm?

Chen Yu: Mein Unterricht im Taijiquan hat angefangen, als ich sieben Jahre alt war. Er lehrte mich bis zu seinem Tod, als er starb war ich zwanzig.

cultura martialis: Wie viele Geschwister haben Sie?

Chen Yu: Ich bin Chen Zhaokuis einziger Sohn und sein einziges Kind.


cultura martialis: Wie viele Kinder hatte Ihr Großvater Chen Fake?

Chen Yu: Chen Fake hatte zwei Söhne, Chen Zhaoxu und Chen Zhaokui, sowie eine Tochter namens Chen Yuxia. Sie wird leider von vielen selten erwähnt, es sollte aber unbedingt allgemein zur Kenntnis genommen werden, dass Chen Fake eben auch eine Tochter hatte. Sie hatte große Fähigkeiten im Taijiquan und verfügte über wirkliches Gongfu.

cultura martialis: Heute fallen im Dajia ("Großer Stil") des Chen Taijiquan oftmals die Begriffe Laojia ("Alter Stil") und Xinjia ("Neuer Stil"). Waren diese Begriffe früher in der Familie schon bekannt bzw. woher stammen diese Unterscheidungen? Haben Chen Fake und Chen Zhaokui die Taijiquan-Formen verändert und gab einer der beiden ihnen diese Namen?

Chen Yu: Man kann nicht wirklich von so etwas wie Laojia oder Xinjia sprechen. Vor 1980 waren diese Bezeichnungen im Dorf Chenjiagou, dem Ursprungsort des Taijiquan, völlig unbekannt. Die Dorfbewohner, die das Taijiquan meines Vaters beobachten konnten, haben sein Taijiquan nie als Xinjia bezeichnet. Es gibt meiner Ansicht nach nicht so etwas wie Laojia oder Xinjia, sondern nur ein Jia. Mein Vater und mein Großvater haben keinen neuen Stil oder eine neue Form entwickelt. Sie haben nur viele Detailänderungen an der bereits bestehenden Form vorgenommen, was bei manchem Betrachter wohl den Anschein erweckte, es handele sich um eine neue Form. Ich wüsste auch nicht, dass mein Vater das Taijiquan meiner Familie jemals als Laojia oder Xinjia bezeichnet hätte. Die Form, die mein Vater praktizierte und unterrichtete, ist eine Kampfform. Ich bezeichne das als Gongfu Jia.
Chen Fake und Chen Zhaokui waren beide starke Persönlichkeiten. Das hat sich selbstverständlich prägend auf das Chen Taijiquan ausgewirkt. Es kommt oft vor, dass in einer Familie beispielsweise zwei Brüder, die ausschließlich von ihrem Vater lernen und somit ein und dieselbe Person zum Lehrer haben, trotzdem jeweils einen unterschiedlichen, individuellen Charakter in ihrer Form ausdrücken. Dieser Vorgang ist ganz normal und auch wichtig für den persönlichen Ausdruck.

cultura martialis: Es wird oft behauptet, dass Chen Zhaokui in den Sechziger Jahren von Chen Zhaopei in Chenjiagou die Waffenformen erlernt hat. Trifft das zu?

Chen Yu: Vermutlich kann niemand diese Frage genau beantworten. Mein Vater sprach oft über die hohen Fertigkeiten, die Chen Zhaopei im Taijiquan besaß. Ich weiß, dass mein Vater die Waffenanwendungen von seinem Vater Chen Fake gelernt hat. In den Siebziger Jahren ist mein Vater nach Chenjiagou zurückgekehrt und hat unter anderem Jian (Schwert), Dao (Säbel) und Shuang Dao (Doppelsäbel) unterrichtet. Ich selbst habe als Kind die Waffenhandhabung von meinem Vater gelernt, übe sie heute aber kaum mehr.

cultura martialis:
Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden im Taijiquan benutzten Begriffen Li und Jin?

Chen Yu: Li könnte man als allgemeine Stärke oder Kraft bezeichnen, während Jin eine geführte Energie ist, also Energie, die in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Wir sagen, Jin entstammt dem Qi.

cultura martialis: Oftmals wird im Taijiquan über unterschiedliche Arten des Jin gesprochen. Dies ist oft schwer zu verstehen, können Sie eine spezielle Definition abgeben?

Chen Yu: Es gibt prinzipiell nur ein Jin, und das entstammt dem Qi. Chansijin ist z.B. inneres Jin und entstammt dem Neiqi, dem Qi des Inneren. Das äußere Jin wird als Chanroujin bezeichnet.

cultura martialis: Was bedeutet für Sie äußeres Jin?

Chen Yu:
Es gibt unterschiedliche Qualitätsstufen in der Kultivierung des Jins. Chansijin stellt die ultimative Ebene dar. Die gemeinsame Bewegung von Energie, Kraft und Qi - wie auch immer man es bezeichnen möchte - ist so fein wie ein Faden. Innerlich verbunden und sehr subtil. Die "äußere" Variante ist einfach eine gröbere Spielart davon. Zur Vervollkommnung seiner Fähigkeiten muss man sozusagen vom Großen ins Kleine kommen.

cultura martialis:
Des öfteren wird Chansijin auch mit Pengjin gleichgesetzt. Können Sie darauf näher eingehen?

Chen Yu: Peng ist eine Form von Kraft, die sich in zwei Aspekte aufteilt. Der Klarheit wegen können wir hier Pengli sowie auch Pengjin unterscheiden. Pengli ist eine strukturelle Kraft, das Resultat oder die äußere Erscheinung des angesammelten Qi. Es ist ein Empfinden, das sich im Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Fangsong - der Tiefenentspannung - einstellt. Damit es zu einer Ausdehnung kommen kann, muss das Qi tief sinken. Gießt man z.B. Wasser in ein Glas, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem das Glas voll ist. Gießt man weiter, läuft es über. Mit dem Qi ist es ähnlich. Sammle ich das Qi beispielsweise in der Hand, dann wird nach einer bestimmten Zeit der Punkt erreicht, der zu einer Bewegung führt.
Ein anderer Aspekt des Pengli erfordert ein gewisses Maß an Grundstärke. wenn man sie besitzt, kann man seine Bewegung mit einem geringen Kraftaufwand auf einen sehr starken Gegner anwenden.
Wenn man diese Grundstärke nicht besitzt, kann man das logischwerweise nicht tun. Pengjin ist das Resultat einer Aktion, z.B. einer Aufwärtsbewegung, und gehört zu den vier grundlegenden und richtungsweisenden Jins.

cultura martialis: Können Sie bitte genauer erklären, wie man die Grundstärke, die Sie meinen, für das Taijiquan entwickeln kann? Benötigt man dazu irgendwelche Hilfsmittel wie Gewichte oder andere Trainingsgeräte?

Chen Yu: Als Teenager übte ich die Schwertform mit zwei unterschiedlich schweren Eisenschwertern mit einem Gewicht von je fünf und zehn Kilogramm. Meine Schüler üben heute mit kleinen Sandsäcken mit 1 bis 2 Kilogramm Gewicht an Hand- und Fußgelenken und an der Hüfte. Diese werden zu den Übungen getragen, aber auch - sofern möglich - während des normalen Tagesablaufs. Der Taijiqiu (Ball) und der Bang (kurzer Stock) werden ebenfalls für das Training eingesetzt, ebenso wie der schwere Langspeer. Man kann mit all diesen Übungen früh auf seinem Kultivierungsweg beginnen. Aber man wird erst dann die spezifische und für das Taijiquan benötigte Stärke entwickeln, wenn man andere Taijiquan-Prinzipien wie Gen, das Sinken des Kua, die Spiralkraft usw. verstanden hat.

cultura martialis: Gibt es Ihrer Meinung nach eine Grundvoraussetzung, die man erfüllen muss, um Taijiquan erlernen zu können?

Chen Yu (lachend): Ja, man muss mich in Beijing anrufen! Nein, im Ernst, eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, echten Enthusiasmus für das Taijiquan zu entwickeln. Hinzu kommt die wirkliche Bereitschaft, hart zu arbeiten und sich mit Leib und Seele dieser Kunst zu verschreiben.
And dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass man, wenn man Taijiquan richtig übt, schwitzen muss! Mir fällt bei meinen Seminaren in Europa immer wieder auf, dass die Bereitschaft, sich richtig anzustrengen und zu schwitzen, bei den Leuten oft nicht gegeben ist. Man sollte nicht den Fehler begehen, aus einer falsch verstandenen Entspannung heraus lasch zu trainieren.
Ernsthaftes Training ist äußerst anspruchsvoll und man muss motiviert sein, sonst wird man nie auf die wirklich interessanten, höheren Stufen des Taijiquan gelangen. Denn echtes, traditionelles Taijiquan hat viel mehr zu bieten, als die meisten überhaupt nur erahnen.

cultura martialis: Können Sie bitte schildern, wie Ihr Unterricht im Taijiquan aufgebaut ist und mit welchen Methoden und Übungen Sie neue Schüler unterrichten?

Chen Yu: Die Klassen bestehen in der Regel sowohl aus Anfängern als auch aus Fortgeschrittenen. Die Schüler sind dazu angehalten, sich relativ selbstständig das Taijiquan anzueignen. Dies geschieht dadurch, dass sie natürlich von mir unterwiesen werden, aber auch durch das Üben mit den fortgeschrittenen Schülern. Üblicherweise kommen die Schüler früh zum Unterricht und beginnen von sich aus mit den Übungen. Wenn ich den Übungsplatz betrete, beobachte ich zuerst eine Zeit lang die Schüler und rufe sie dann alle zusammen, um eine neue Bewegung zu zeigen. Wenn Schüler anwesend sind, die die Form zum ersten Mal lernen, zeige ich ihnen eine Bewegung des Gesamtablaufs bzw. der Form. Zuerst zeige ich eine Bewegung, dann üben wir alle zusammen und letztendlich nur die Schüler. Ich gehe währenddessen von Schüler zu Schüler, beantworte deren Fragen, zeige Anwendungen aus der Form, führe die Fortgeschrittenen in subtilere Aspekte des Taijiquan-Trainings ein und demontriere den Gebrauch im Tuishou.

cultura martialis: Was halten Sie von den Tuishou-Wettkämpfen, die in China und heutzutage auch in anderen zahlreichen Ländern ausgetragen werden?

Chen Yu: Ich werde von vielen Leuten gefragt: Ist das Tuishou oder Shuaijiao (Ringen)? Für mich sieht es aus wie ein Ringkampf. Die besten Taijiquan-Kämpfer nehmen vermutlich an diesen Wettkämpfen nicht teil. Normalerweise genügt oft eine einzige Berührung, um festzustellen, wer der Bessere ist.
Ich akzeptiere selbst regelmäßig Herausforderungen von Kämpfern aus unterschiedlichen Kampfstilen, um die Wirksamkeit des Taijiquan praktisch zu demonstrieren. Denn eine Kampfkunst ist für mich nur dann sinnvoll, wenn sie eben auch praktisch anwendbar ist und erkennen lässt, dass man die jeweiligen Prinzipien auch verinnerlicht hat.

cultura martialis:
Herr Chen, vielen Dank für das informative Gespräch.

 

Über Chen Yu

Chen Yu wurde 1961 in Peking geboren und ist direkter Nachfolger der Chen Familientradition der 19. Generation. Seine Kindheit verbrachte er teilweise in Peking (sein Großvater zog 1928 von Chenjiagou nach Peking) mit seinem Vater Chen Zhaokui und teilweise in dem Ursprungsort des Taijiquan, in Chenjiagou in der Provinz Henan. Im Alter von 13 Jahren demonstrierte er zum ersten Mal seine Kunst und begann, seinem Vater beim Unterrichten zu helfen. Er arbeitete weiterhin hart an seiner eigenen Entwicklung. Ähnlich wie sein Vater, der anfänglich auch nicht sehr bekannt war, ist Chen Yu in der Taijiquan Szene außerhalb Chinas kaum bekannt. Im Kreis Wenxian, in dem auch Chenjiagou liegt, erinnert man sich jedoch heute noch mit einer Mischung aus Respekt und Furcht an sein hitziges Temperament als junger Mann. Chen Yu zog es immer schon vor, abseits der Öffentlichkeit seine Fähgikeiten weiter zu entwickeln und sein Wissen in kleinen Gruppen zu unterrichten, ein paar wenige davon auch außerhalb von China. Eine seiner beeindruckensten Fähigkeiten im Chen Taijiquan ist sein Qinna, oft übersetzt als "Hebeltechnik". Aber es ist weit mehr als das und wird als wesentlicher Eckpfeiler im fortgeschrittenen Taijiquan-Training bezeichnet. Es dient oft dazu, die wahren Fähigkeiten zu erkennen und zu prüfen. Seine Demonstrationen sind oft sehr schmerzhaft, er gibt aber dadurch den wenigen Schülern die einmalige Gelegenheit, die Wirksamkeit des Qinna am eigenen Körper zu erfahren.
Chen Yu lebt heute in Peking mit seiner Frau und seinem Sohn, Chen Shiwu, der, wie es die Tradition vorgibt, schon fleißig mit dem Taijiquan-Training begonnen hat.

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