Posthum veröffentlichtes Manuskript von Chen Zhaokui1 - Redigiert von Chen Yu; aus dem Chinesischen von Stefan Gätzner für das Magazin für Chinesische Kampfkunst. Der chinesische Original-Artikel stammt aus der Zeitschrift 武魂 – Wuhun, Nr. 202, S. 29. Mit freundlicher Genehmigung von Stefan Gätzner wird der Artikel hier erneut veröffentlicht.
Chen Zhaokui (links) beim Tui Shou |
Die spulende Kraft wird auch seidenspulende Kraft genannt und ist einer der Hauptinhalte des Chen-Taijiquan. Einfach gesagt handelt es sich dabei um einen Verlauf und eine Methode des Krafteinsatzes. Dies bezieht sich darauf, dass sämtliche Bewegungen am ganzen Körper oben wie unten einem gebeugten Verlauf folgen. Darüber hinaus sind sie Abschnitt für Abschnitt miteinander verbunden und eng aufeinander abgestimmt. Sie sind fortgesetzt und ununterbrochen - d.h. das, was man bezeichnet als: "das Yi ist ununterbrochen (Yi bezieht sich auf den bewussten Gedanken)", "der Körper (bezogen auf den Körpereinsatz) ist ununterbrochen", "Jin (die Kraft) ist ununterbrochen", "Shen (der Ausdruck des Geistes in den Augen) ist ununterbrochen", "die Peng-Kraft ist ununterbrochen", "die schließende Kraft ist ununterbrochen" und "die öffenende Kraft ist ununterbrochen".
Außerdem nehmen alle Bewegungen die Taille zur zentralen Achse; jegliche Bewegung ist damit abgestimmt. Im Inneren verläuft das Seidenspulen, außen [sichtbar] werden runde Bewegungen vollzogen. Auf diese Weise entsteht ein Kraftverlauf, der fast einer Spirale gleicht und der sich aus der Verbindung aller Arten von Bogenlinien mit verschiedenen Krümmungsgraden zusammensetzt. Bei den beiden Zeichen für "Seide spulen" als Bestandteil des Begriffs seidenspulende Kraft handelt es sich um eine Metapher. Es ist keineswegs so, dass es eigens irgendeine "Kraft"2 gäbe, die sich am Körper und den Gliedmaßen entlang schlängeln und winden würde.
Die seidenspulende Kraft kann man sowohl beim Angriff als auch bei der Abwehr einsetzen. Gleichzeitig kann eine Bewegung sowohl einen Angriff als auch eine Verteidigung darstellen. Beim Angriff ändert sich der eigene Punkt der Kraftübertragung, indem er der Bewegung des Gegners folgt. Bei der Abwehr passt man sich der Änderung des gegnerischen Punkts der Kraftübertragung an, um ihn ins Leere laufen zu lassen. Z.B.: Ich greife mit dem Arm an, indem ich schwellende Kraft3 einsetze. Meine Hand wird vom Gegner von der Seite abgefangen und von ihm vorbeigeleitet (unter der Annahme, dass der Punkt der Kraftübertragung im Bereich meiner Hand liegt). Daraufhin lockere ich die Kraft in der Hand und gehe zum Einsatz des Ellbogens über (d.h. ich verändere den Punkt der Kraftübertragung). Falls mein Angriff nochmals weitergeleitet wird, entspanne ich den Oberarm und setze die Schulter ein... usw. bis zum Einsatz der Hüfte, oder des Ellbogens von hinten (d.h. der andere Ellbogen greift von hinten [mit einer Körperdrehung] an). Allein von dieser einen Bewegung ausgehend betrachtet kann jeder einzelne Punkt auf der Linie von der Hand über die Schulter, den Rücken bis zur Hüfte zum Punkt der Kraftübertragung werden. Es ist nicht nur so, dass man den oben beschriebenen Ablauf an Variationen ausführen kann, sondern man kann sie auch miteinander kombinieren. In dem Moment, da man die Schulter und den Ellbogen entspannt, setzt man umgekehrt die Hand und den Unterarm ein, um den Sieg zu erringen. Kurz gesagt geht es hier dabei stets darum, sich den gegnerischen Bewegungen anzupassen und sich auf die sich verändernden Umstände einzustellen. Bei der Abwehr verhält es sich dann genauso.
Analog zum obigen Beispiel: Während der Gegner mich angreift, fange ich Hand und Arm des Gegners ab (ich gehe mit der gleichseitigen Hand seitlich entgegen). Mit der Taille als Achse drehe ich mich mit dem Angriff des Gegners (dabei verlagert sich das Gewicht gleichzeitig nach hinten). Mit schwellender Kraft drücke ich den gegnerischen Angriff nach unten ein und drehe ihn gleichzeitig nach außen, so dass ich den Punkt der Kraftübertragung vorbei leite. Wenn der Gegner mich verfolgt und den Punkt der Kraftübertragung verändert, dann passe ich mich der Situation an und leite fortgesetzt vorbei. Wenn es die Situation erlaubt, z.B. wenn der Gegener beim Verfolgen mir zu nahe kommt - kann man außerdem für ihn unerwartet ihn in die entgegen gesetzte Richtung vorbei leiten, so dass der Gegner auf der anderen Seite ins Leere läuft... Allein bezogen auf diese Technik gibt es noch zahlreiche Variationen; der Einfachheit halber lasse ich sie an dieser Stelle weg. Nebenbei bemerkt, wenn man die bogenförmige Kraft (d.h. die seidenspulende Kraft) einsetzt, verliert im Kampf derjenige Körperteil, der vom Gegner vorbeigeleitet wurde, wie oben beschreiben beim Wegdrehen von Hand und Ellbogen, auch keineswegs seine Einsatzfähigkeit unter der Voraussetzung, dass die eigene Kraft nicht unterbrochen wurde. Nicht nur, dass er sich der jeweiligen Situation anspassen kann, sondern er kann auch noch Kraft einsetzen, um den Gegner zu kontrollieren. D.h. solange es noch nicht zu einer weiteren Anpassungsreaktion gekommen ist, hat er nach wie vor eine Abwehrfunktion, die darin besteht, gegnerische Bewegungen im Keim zu ersticken. Ob dies gelingt oder nicht, hängt entscheidend davon ab, dass die eigene Kraft nicht unterbrochen wird. Dies ist jeweils anhand der obigen Ausführungen zu klären.
Im Chen-Taijiquan verlaufen jegliche Technik und die Bewegungen eines jeden Körperteils unter Einsatz der seidenspulenden Kraft, es gibt hierbei keine Ausnahme (wobei sich dies in der Hauptsache speziell auf den Oberkörper bezieht). Es soll hierbei betont werden, dass die Bewegungen des ganzen Körpers dazu passend koordiniert werden müssen. Beim Einsatz der seidenspulenden Kraft sind die Bewegungen nicht unbedingt besonders groß, manchmal ist der Unterschied, ob man seidenspulende Kraft einsetzt oder nicht, von Außen gesehen sehr klein. Solange man sie passend einsetzt, ist es in Ordnung. Überflüssiges Wackeln und Drehen dagegen ist unbedingt schädlich.
©2005 Wuhun - Beijing Wuhuyuan
Copyright der Übersetzung Stefan Gätzner
Anmerkungen des Übersetzers:
1 Chen Zhaokui (1927-1981), 18. Generation des Chen-Taijiquan, dritter Sohn des berühmten Großmeisters Chen Fake (1887-1957); Chen Fake wiederum hatte seinerzeit als erster nach der Yang-Familie und ihrer Taijiquan-Variante auch den Ursprungssteil des Chen-Klans in Beijing und anderen Großstädten bekannt gemacht.
Siehe Zhongguo Wushu Renming Cidian (Namenswörterbuch des chinesischen Wushu), Renmin Tiyu Chubanshe (Volkssport-Verlag), 1993, S.22, 27.
2 "Kraft" (Anführungszeichen im Original): Meiner Interpretation nach wurde hier der Begriff 劲 - Jìn in Anführungszeichen gesetzt, weil nicht nur die Grundbedeutung Kraft/Energie gemeint ist, sondern auch die Bedeutung "sichtbarer Ausdruck" - also ein sichtbarer Ausdruck des Seidenspulens.
3 膨劲 – Péngjìn: schwellende Kraft - hier wird das gängige Zeichen 膨 – Péng für "[an-]schwellen" verwendet.