Die Wiege des Taijiquan

Das Seidenspulen und die Taijiquan-Klassiker der Qing-Dynastie. An dieser Stelle findet sich eine kurze Passage aus dem Buch "Die Wiege des Taijiquan" von Nabil Ranné.

Die meisten späteren klassischen Schriften des Taijiquan entstanden ab Mitte des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich innerhalb der Wu-Familie, beginnend mit dem Fund der „Abhandlung über das Taijiquan“ von Wang Zongyue. Um diese zentrale Schrift herum entwickelten Wu Yuxiang und Li Yiyu einen Textkorpus, der bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts hauptsächlich innerhalb ihrer Familie weitergereicht wurde [...]. Das „Lied der schlagenden Hände“ (dashou ge) ist [dabei] die einzige Schnittmenge der klassischen Schriften der Familien Wu und Yang mit denen der Chen-Familie. Innerhalb der Chen-Familie werden üblicherweise auch die Texte Chen Wangtings, Chen Changxings und Chen Xins zu den klassischen Schriften gezählt. Letzterer verfasste das wohl ausführlichste Werk zum Taijiquan (das Taijiquan Tushuo) in den Jahren bis 1919, 1933 wurde es posthum veröffentlicht. [... Hier folgt im Originaltext eine längere Passage zu weiteren klassischen Werken des Taijiquan, Anm. d. A.]. Obwohl Chen Xin auch andere Bücher schrieb, von denen einige nicht erhalten geblieben sind, stellt dieses sein Lebenswerk dar.
   
Es enthält umfangreiche kosmologische Erörterungen in Anlehnung an das Yijing, medizinische Ausführungen und die Anwendung von Akupunkturpunkten auf das Taijiquan und darüber hinaus die ersten bebilderten Formen des Chen-Stil-Taijiquan des „Kleinen Rahmens“. Er lehnt sich hierbei an mehrere klassische Werke an. Der Mensch wird als Mittler zwischen den Kräften von Yang, dem Himmel entsprechend, und Yin, der Erde zugeordnet, dargestellt (vgl. nebenstehende Abbildung). Diese werden zudem mit einer ausgiebigen Zahlenmystik versehen [...]. Wile weist darauf hin, dass Chen Xins kosmologische, medizinische sowie praktische Ausführungen auf eine größere Verwandtschaft zu Chang Naizhous Werk hindeuten. Wie Chang Naizhou spricht er davon, dass „Hartes und Weiches sich gegenseitig unterstützen müssen“ (gang rou xiang ji) (vgl. Wile, 1996, S. 119) und gleichfalls spielt der Begriff der „Zentralen Energie“ (zhongqi) sowohl bei Chang als auch Chen Xin eine wichtige Rolle [...]. Chen [Xin] formuliert weiter:
„Erst, nachdem ich in den alten Klassikern über das runde Taiji-Symbol gelesen hatte, verstand ich, dass man, wenn man Taijiquan praktizieren möchte, das Seidenspulen verstehen muss. Seidenspulen ist eine Methode, um die ‚Zentrale Kraft‘ zu bewegen.“ Hier finden wir erstmalig eine ausführliche Erwähnung des als zentral erachteten „Seidenspulens“ oder der „seidenspulenden Essenz“ (chansijing), der spiralförmigen Bewegungsführung aller Techniken: „Taijiquan ist auch eine Methode des Spulens. Die Spiralmethode ist wie eine schraubende Bewegung von den Muskeln bis zur Haut. Normalerweise benutzen Bewegungen sie permanent.“1
   
In seiner „Theorie zur Essenz des Seidenspulens im Taijiquan“ (taijiquan chansijing lun) führt er dazu aus:
 

„Taijiquan ist auch eine Methode des Seidenspulens. [Es gibt] eintretendes Spulen, zurückziehendes Spulen; horizontales [linkes und rechtes] Spulen, vertikales [oben und unten] Spulen, nach innen und außen Spulen, großes und kleines Spulen [sowie] mitläufiges und gegenläufiges Spulen. Wichtig hieran ist, beim Hereinleiten das Spulen [ebenso] zu nutzen [wie auch] beim nach vorne gehen, [und] es darf nicht [nur] von speziellen Anwendungen [abhängen]; [hinge es] von speziellen Anwendungen ab, könnten Yinyang sich nicht gegenseitig Wurzel sein. Normale Menschen verstehen das nicht, alle halten es [bloß] für ‚weiche Hände‘. Wenn man von außen schaut, sieht es [zwar] so aus. Wenn man [aber] den Geistesrhythmus (shenyun) beim Hände kreuzen [also kämpfen] benutzt, werden Härte und Flexibilität beide verwendet, [gerade] so, wie es passt. Ohne lange Zeit [des Übens] kann [die Fertigkeit] nicht kommen, und man kann die Details nicht durchdringen. Beide Schultern hängen lassen, beide Ellbogen senken, delikat wie eine Maid, die einen Mann erblickt, [aber] wie ein wilder Tiger, der vom Berg herabkommt.“2
Wu Yuxiang erwähnt das Seidenspulen an einer Stelle in den klassischen Schriften kurz: „Mache Schritte, so wie eine Katze geht, und bewege die Kraft (jin), als ob du Seide spinnst [...]“.3 Chen Xin stellt aber die zentrale Bedeutung des Seidenspulens für das Chen-Stil-Taijiquan klar: „Seidenspulen ist eine Gruppe von Methoden, um die ‚Zentrale Energie‘ (zhongqi) zu führen. Wenn man diese nicht versteht, versteht man auch das Boxen nicht.“4
Obwohl in den Jahren, nachdem das Taijiquan Tushuo fertig gestellt worden war, viele weitere Schriften zum Taijiquan erschienen und das Taijiquan immer populärer wurde, gilt die Zeit der „klassischen Schriften“ des Taijiquan mit dem Ende der Qing und dem Anfang der Republik als beendet und sowohl die politische Umfunktionalisierung des Taijiquan als auch eine modernere Medienproduktion, die u. a. den Druck von Fotografien erlaubt, verändern Ausdruck und Inhalt der Schriften zum Taijiquan entscheidend.

 

Fußnoten:

1Chen Xins Kapitel „Das Aussenden und Erhalten von Seidenspulkraft in der Taijiquan-Theorie“ (taijiquan fa meng chansijin lun) zitiert nach Chen Yu, 2007, S. 83: 太极拳,缠法也。缠法如螺丝形运于肌肤之上,平时运动,恒用此劲

2Übersetzt aus Chen Xin, 2007, S. 47f. Dieser Absatz schließt folgendermaßen ab: „Die Hände wie beim Balanzieren, um ein Ding abzuwägen. Beim Weg des Faustkampfes muss ich in der Herzensmitte dieses Abwägen besitzen. Wenn er [der Gegner] vor- und zurückprescht, trete ich mit meinem geschulten Bewusstsein (jingshen) entgegen und das ist dieses formlose Abwägen. Wenn man formloses Abwägen nutzt und die sichtbaren Indikatoren, kann man mit den Händen ermessen, wie leicht oder schwer etwas wirklich ist und angemessen agieren, [und] das wird magische Hand [also Meisterschaft] genannt.“ Alternative englische Übesetzungen finden sich in Chen Xin und Golstein (2007, S. 116), sowie Szymanski (1999a).

3Chinesisch aus Davis, 2004, S. 169: 迈步如猫行,运劲如抽丝; der Satz befindet sich in den „Erläuterungen zum Herzen bei der Durchführung der Übung der Dreizehn Stellungen“ (shisanshi xinggong xin jie) von Wu Yuxiang; dieser Teil der Schrift wird teilweise auch anderen Autoren zugeordnet (vgl. Davis, 2004, S. 121f.).

4Chinesisch aus Chen Xin, 2007, S. 46: 缠丝者,运中气之法门也。不明此,即不明拳。Ein sehr ähnliches und zentrales (Bewegungs-)Konzept findet sich auch in dem 1935 erschienenen Werk des Zhaobao-Taijiquan-Vertreters Du Yuanhua (der in Kontakt mit Chen Xin stand). Er nennt es Beisikou (wörtlich in etwa „Rücken-Seide-Knöpfen) und schreibt dazu: „Beisikou ist die Mutter des Taijiquan und durchdringt diese Boxkunst als Fertigkeit (gongfu) von Anfang bis Ende; diese Theorie und dieses Lied lehren Menschen, nur mitläufige (shun) und gegenläufige (ni) Methoden des Beisikou zu nutzen…“ (Du Yuanhua, 1935, S. 18). Das Beisikou-Konzept wird auch heute noch zumindest in den Chen-Stil-Traditionen des „Kleinen Rahmens“ und „Neuen Rahmens“ gelehrt und umschreibt, sehr kurz gefasst, runde, acht- und S-förmige Ganzkörperbewegungen (vgl. die Grafik ebd.), die mit der sogenannten „seidenspulenden Kraft“ zusammenhängen.

 

Literatur:

Chen Yu (2007b). Rumen taolu ershiba shi. Beijing: Zhongguo Chen Zhaokui taijiquan she.

Chen Xin. (2007). Chenshi taijiquan tushuo. Taiyuan: Shanxi kexuejishu chubanshe.

Chen Xin, & Golstein, A. (2007). The Illustrated Canon of Chen Family Taijiquan. Maroubra: INBI Matrix Pty Ltd.

Davis, B. (2004). Taijiquan classics: an annotated translation (commentary by Chen Weiming). Berkeley, Calif.: North Atlantic; Enfield: Airlift [distributor].

Du Yuanhua (1935). Taijiquan zhengzong (digitale Version). Tai-Chi Martial Art Digital Archive.

Szymanski, J. (1999a). Excerpts from Illustrated Explanations of Chen Family Taijiquan by Chen Xin. Erhältlich: http://www.chinafrominside.com/ma/taiji/chenxin.html [2009, 10. März]

Wile, D. (1996). Lost T'ai-chi classics from the late Ch'ing dynasty. Albany: State University of New York Press.

 

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